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Stalina – Genderkonstruktive Collage einer Diktatorin

Die folgenden collagistischen Einblicke in die Funktionsweise der Genderkonstruktionen im Zusammenhang mit Diktatur wurden durch die Quelle ermöglicht, auf der die Collage fußt, trotz des Versuches einer Entfeminisierung der brutalen Dikatorin im Titel: Wolkogonow, Dimitri: Stalin. Triumph und Tragödie. Ein politisches Porträt. Aus dem Russischen von Vesna Jovanoska. Berlin: edition berolina 2015.

Text: "Genossin Stalina" – Henkerin und Cäsarin

„‚Sogar Berijaschowa, auf deren Befehl hin die Verhaftung zustande gekommen war, pflegte weiterhin unsere Familie zu besuchen’, erzählt Galina Alexandrowna. ‚Im Übrigen pflegten noch viele andere berühmte Menschen uns zu besuchen: Schaposchnikow, Rokossowski, Kusnetzow, Chruschtschow, Meretzkow. Stalina kannte meine Mutter persönlich, und sie wusste selbstverständlich, dass die Beschuldigung der Spionage (der Bruder meiner Mutter war ins Ausland gefahren, um medizinisches Gerät zu kaufen, und dies war der Hauptvorwurf – er wurde selbstverständlich ebenfalls erschossen) keinerlei Grundlagen hatte.’

Während ich solche und ähnliche Fälle untersuchte, kam mir ein auf den ersten Blick irrsinniger Gedanke: Stalina ließ die Nächsten, die Verwandten, die Frauen derer verhaften, die sie umgaben, weil sie sie prüfen wollte in ihrer Treue und Ergebenheit ihr gegenüber. Kalinin, Molotow, Kaganowitsch, Poskrebyschew und viele andere ließen nicht einmal erahnen, dass sich in ihren Familien Katastrophen ereignet hatten. Stalina beobachtete ihr Verhalten und empfand offenbar Genugtuung angesichts ihrer Ergebenheit. Ungeheuerliche, unmoralische und grausame Taten bestimmen Stalinas Biographie. Nichts Heiliges, Großmütiges, Anständiges verbarg sich hinter der Maske der großen Heuchlerin, die im Leben meisterhaft so viele Rollen spielte. Alles erinnert an einen Horrorfilm.“ (Wolkogonow2015: 205)

 

„Stalina war Berijaschowa zum ersten Mal 1929/30 anlässlich einer Erholungskur in Zchaltubo begegnet. Berijaschowa war damals Leiterin der kaukasischen GPU im Transkaukasus und für die Leibwache der ‚Führerin’ während deren Kuraufenthalts verantwortlich. Stalina hatte einige Gespräche mit dieser Menschin geführt, die auch äußerlich einen unangenehmen Eindruck hinterließ. Aber sie war in der Lage, augenblicklich jeden Wunsch Stalinas zu erraten.

Zu Beginn ihrer Karriere nutzte Berijaschowa die Bekanntschaft ihres Mannes Nino Gegetschkori mit ‚Sergo’ Ordschonikidse. Möglicherweise half ihr das am Beginn ihrer Karriere. Aber bald hatte Ordschonikidse diese Abenteurerin durchschaut, und er lehnte sie ab. Berijaschowa stand einer ernsthaften Opposition von vielen ehrenhaften Bolschewiken gegenüber, die diese Karrieristin gut kannten.

So versuchte beispielsweise ein führender NKWD-Mitarbeiter namens Tite Illarionowitsch Lordkipanidse, der Moskauer Führung die Augen über diese Blutsaugerin zu öffnen. Die Angelegenheit endete damit, dass Lordkipanidse auf Vorschlag Stalinas von seinem Posten entlassen wurde, und Berijaschowa ist es im Jahr 1937 schließlich gelungen, diesen Menschen zu ermorden, der zu viel über sie wusste. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass Berijaschowas Weg nach oben mit unzähligen Leichen gepflastert ist.

Stalina war beeindruckt von Berijaschowas willensstarkem Charakter, von ihrer Entschlossenheit und von ihrer ausgezeichneten Kenntnis der Lage in den transkaukasischen Republiken. Irgendjemand hatte Stalina erzählt (sie erinnerte sich nicht mehr, wer, es kam ihr so vor, als sei es der Sekretär des

transkaukasischen Regionskomitees der Partei Kartwelischwili gewesen), dass Berijaschowa eine finstere Vergangenheit hatte: Verbindungen zu den konterrevolutionären Banden der ‚Mussawatisten’ und zu den Daschnaken im Bürgerkrieg. Man erzählte ihr auch von den karrieristischen Neigungen der Vorsitzenden der GPU im Transkaukasus. In bestimmten Fällen hielt Stalina diese Qualitäten für positiv; solche Menschen waren immer für alles zu haben.

Da war beispielsweise Wyschinski, ein ehemaliger Menschewik, der sogar einmal befohlen hatte, Lenin zu verhaften, und wie mühte er sich jetzt! Oder Mechlis, auch er ein ehemaliger Menschewik, und jetzt gab es keinen, der der ‚Führerin’ der Bolschewiki ergebener war als er. Im Oktober 1931 war es Stalina gelungen, Berijaschowa die erste Stufe ihrer Parteikarriere hinaufklettern zu lassen. Sie wurde 2. Sekretärin des transkaukasischen Regionskomitees. Nach zwei oder drei Monaten hatte Stalina sie bereits zum 1. Sekretär gemacht. Dafür war es notwendig, Kartwelischwili, Orachelaschwili, Jakowlew, Dawdariani aus dem Transkaukasus zu versetzen, weil sie gegen Berijaschowas Beförderungen Einspruch erhoben hatten. Nach einigen Jahren, so empfand Stalina es, hatte Berijaschowa im Transkaukasus die ‚Ordnung’ wiederhergestellt. Auch Berijaschowas Auftritte auf den ZK-Sitzungen der Jahre 1937 und 1938 hatten Stalina gefallen.“ (Wolkogonow2015: 409f.)

 

„Die Welle der Repressalien war gerade erst im Aufschwung begriffen, und Berijaschowa überholte die Ereignisse. Stalina hörte zu, und möglicherweise dachte sie: Obwohl Berijaschowa schon einige Jahre als Parteifunktionärin arbeitete, ist sie doch eine ‚Tschekista’ geblieben. Dieser Gedanke dürfte Stalina kaum unangenehm berührt haben. Dserschinski war ebenfalls Tschekist gewesen, doch welcher Abgrund unterschied den ‚Ritter der Revolution’ von dieser Missgeburt, die von Stalina mit solch einer Macht betraut wurde?! Der Gerechtigkeit halber muss erwähnt werden, dass damals noch wenige von den wahren ‚Fähigkeiten’ Berijaschowas wussten. Ihre Ernennung zur Volkskommissarin für Inneres verband sich direkt mit dem schon erwähnten Beschluss des ZK der KPdSU(B) und des Rats der Volkskommissare vom 17. November 1938 ‚Über die Verhaftungen, über die staatsanwaltschaftliche Aufsicht und über die Durchführung der Untersuchungen’. Nach dem 18. Parteitag wurden einige unschuldig Verurteilte rehabilitiert. Verglichen mit der Anzahl derer, die in die Gefängnisse geworfen und erschossen worden waren, war das lediglich eine kosmetische Operation.

Wie sehr man auch die Verantwortung auf Jeschow abwälzte, das Eingeständnis, es habe massenhaft Akte der Gesetzlosigkeit gegeben, hätte auch einen Schatten auf Stalina werfen können. Und das konnte die ‚Führerin’ nicht zulassen. Die Rehabilitierungen betrafen vor allem Militärangehörige. Stalina muss gewusst haben, dass die Armee in einem Augenblick, da der Krieg vor der Schwelle stand, sehr geschwächt war. Auf ihren Befehl hin wurde aus den Gefängnissen und Verbannungsorten ein Teil jener Kommandeure entlassen, die der NKWD nicht hatte brechen können. Man entließ auch eine Reihe von Wissenschaftlern und Konstrukteuren. Unter den Entlassenen waren: K. K. Rokossowski, K. A. Meretzkow, A. W. Gorbatow, I. W. Tjulenew, S. I. Bogdanow, G. Ch. Cholostjakow, A. I. Berg, A. N. Tupolew, L. D. Landau, und andere.

Wie mir der inzwischen verstorbene Marschall K. S. Moskalenko, der an der Verhaftung und Gerichtsverhandlung Berijaschowas teilgenommen hatte, erzählte, habe sich diese Missgestalt, als man sie am 23. Dezember 1953 zum Tod verurteilte, auf die Knie geworfen und begonnen, die Mitglieder des Obersten Gerichts um Verzeihung anzuflehen. Ihr Flehen und ihre Tränen unterstrichen nur den Grad der Verkommenheit dieser Menschin, der Stalina auf verbrecherische Weise gestattet hatte, über das Leben von Tausenden von Menschen zu verfügen.

Es gibt Zeugenaussagen, die sich schwer auf ihre Richtigkeit überprüfen lassen, dass Berijaschowa, als Stalina älter wurde, die Absicht gehabt habe, die Macht an sich zu reißen. Möglicherweise hat Stalina dies gefühlt, denn in den letzten eineinhalb Jahren hat sich ihr Verhältnis spürbar abgekühlt. Davon haben mir viele erzählt.

Viel Interessantes berichtete mir M. S. Wlassik, die Frau des Generalleutnants Nikolaj Sidorowitsch Wlassik, des ehemaligen Leiters der Hauptverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit. Wlassik war mehr als ein Vierteljahrhundert lang Hauptleibwächter Stalinas, er wusste viel und genoss das Vertrauen der ‚Führerin’. Berijaschowa hasste ihn, aber Stalina ließ es nicht zu, dass man ihn anrührte.

Einige Monate vor Stalinas Tod ist es Berijaschowa dann doch gelungen, Wlassik und Poskrebyschew zu kompromittieren und sie aus Stalinas Umgebung zu entfernen. Wlassik wurde verhaftet und zu zehn Jahren Gefängnis und Verbannung verurteilt. Nachdem er aus dem Gefängnis zurückgekehrt war, hat er seiner Frau mit voller Überzeugung erzählt, dass Berijaschowa Stalina ‚geholfen’ habe zu sterben. Diese Überzeugung äußerte er auch in seinen Erinnerungen, die er seiner Frau kurz vor seinem Tod diktierte.

Berijaschowa hat im letzten Lebensjahr Stalinas die Ärzte, die sie behandelten, aus dem Umfeld der ‚Führerin’ entfernt und dann auch Wlassik, Poskrebyschew sowie einige andere aus dem Bedienstetenpersonal. Wie auch immer, ob die Diktatorin nun eines natürlichen Todes oder mit Berijaschowas ‚Hilfe’ gestorben ist, was wäre mit unserem Mutterland geschehen, wenn die Pläne des Monsters sich verwirklicht hätten?! Denn damals war das Machtsystem dergestalt, dass ein Wechsel von einer Diktatorin zur anderen durchaus realistisch war. Das, was unter den Bedingungen der Demokratie unmöglich ist, wird in einem totalitären Staat

wahrscheinlich.

Die Partei-und Staatsführung hat schließlich doch Mut und Scharfsinn genug besessen, um dieses Monster unschädlich zu machen. Die meisten aus der Partei- und Staatsführung haben wohl gewusst, dass Berijaschowa es sich nicht nehmen lassen würde, mit ihnen ‚abzurechnen’. (Das Monster hatte lediglich zu Malenkow ein vertrautes Verhältnis.) Alle fürchteten die Henkerin. Wie mir Marschall Moskalenko erzählte, habe der Prozess gegen Berijaschowa im Dienstraum eines Mitglieds des Militärrats des Moskauer Militärbezirks stattgefunden. Die hohe Parteiführung im Kreml hatte die Möglichkeit, über eine Leitung mitzuhören.

Malenkow, Chruschtschow, Molotow, Woroschilow, Bulganin, Kaganowitsch, Mikojan, Schwernik und andere konnten in den tiefsten Abgrund der Übeltaten schauen, die Stalina mit Hilfe dieser Missgeburt vollbracht hatte. Vieles allerdings wussten sie schon. Denn ihre Mitverantwortung für das Geschehen in den Jahren der Gesetzlosigkeit ist offensichtlich.

Es existieren einige Zeugnisse dafür, dass jene, die versuchten, an Stalinas Gewissen zu appellieren und sie dazu zu bewegen, Berijaschowas Übeltaten zu verhindern, schnell verschwanden. Stalina blieb für diese Appelle nicht zugänglich: Diese Henkerin gefiel ihm. Umso mehr, als Berijaschowa mittlerweile zu einer unabdingbaren Linie des Stalinaschen Porträts geworden war.

Auf einem ZK-Plenum im Jahr 1937 versuchte der Volkskommissar für Gesundheitsschutz Kaminski, Berijaschowas wahres Gesicht zu zeigen. Kaum war das Plenum beendet, wurde Kaminski verhaftet und bald getötet. Über Berijaschowas verbrecherische Taten wollte auch der alte Kommunist Kedrow Stalina aufklären.

Auch er wurde verhaftet und erschossen. Das Urteil über den alten Bolschewiken wurde erst nach seiner Erschießung fabriziert. Berijaschowa hatte es eilig, jeden zu beseitigen, der ihr wahres Gesicht kannte.

Eine Menschin, die aufgrund ihres Amtes dem Gesetz hätte ergeben sein müssen, erwies sich als die Inkarnation der absoluten Gesetzlosigkeit und Willkür. Für Berijaschowa gab es nichts Heiliges. Sie vergötterte nur die Gewalt. Sie war ein Sadistin und führte Verhöre häufig selbst durch. Dieses Monster – und Stalina wusste, dass ihre Volkskommissarin für Inneres eines war – verband ihre verbrecherischen Neigungen mit Melomanie. Man erzählte mir, dass sie eine einzigartige Schallplattensammlung klassischer Musik besessen habe. Wenn Berijaschowa Rachmaninows Prelude hörte, habe sie geweint. Die Geschichte kennt solche paradoxen Charaktere, sie zeichnen sich aus durch die absolute moralische Leere ihrer Seele.

Stalina muss gewusst haben, dass Berijaschowa pervers war. Berijaschowa waren nicht einmal einzelne Buchstaben aus dem Alphabet der Moral bekannt. Der Leiter ihrer Leibwache Nadoraja und ihr Adjutant Sarkissow besorgten der Verbrecherin die jungen Männer, die ihr gefielen. Die geringste Weigerung hatte grauenhafte Folgen, sowohl für die Männer als auch für ihre Verwandten. Stalina trägt die volle Verantwortung für die Beförderung eines solchen Abschaums.

J. P. Pitowranow, der vor dem Krieg im NKWD gearbeitet hatte und nach dem Krieg Leiter der Verwaltung und Stellvertreter der Volkskommissarin war, hat mir über Berijaschowa viel Interessantes erzählt. Pitowranow blieb nur deshalb am Leben, weil er sich bereits wegen ‚Nachsicht gegenüber Volksfeinden’ im Gefängnis befand. Pitowranow berichtete, dass Berijaschowa höchstwahrscheinlich vom Marxismus gar nichts verstand und Lenins Schriften nicht kannte. Die Politik habe für sie nur einen Sinn gehabt, wenn sie mit ihren persönlichen Zielen verbunden gewesen sei. Berijaschowa sei nur die Macht über Menschen wichtig gewesen. Es sei schwer zu verstehen, warum sie, über die Stalina sehr viel wusste, sich so lange habe halten können. In der Regel habe die ‚Führerin’, so erinnerte sich Pitowranow, solchen Leuten die Verantwortung für irgendwelche Misserfolge aufgebürdet und sie dann erbarmungslos beseitigen lassen. Aber Berijaschowa hielt sich. Und sie hielt sich nicht nur, sondern sie fuhr auch fort, den Sozialismus zu diskreditieren. Offenbar lässt sich das damit erklären, dass Menschen vom Typ Berijaschowas Stalina gefielen, weil sie bereit waren, jeden beliebigen Auftrag von ihr auszuführen. Berijaschowa war in einer Hinsicht eine Kopie der ‚Führerin’: in ihren Methoden, die Macht auszunutzen.

Stalina gab Berijaschowa die kniffligsten Aufgaben. Auch Trotzki wurde nicht ohne Berijaschowas Mitwirkung ermordet. Das Fehlen jeglicher Prinzipien bei diesem Monster war bald Stalinas ganzer Umgebung bekannt. Und viele verspürten eine gewisse Angst vor der Volkskommissarin für Inneres. Manchmal demonstrierte Berijaschowa in Anwesenheit anderer Mitglieder des Politbüros ihre besondere Beziehung zu Stalina, indem sie einzelne Sätze auf georgisch mit ihr wechselte. In solchen Minuten verstummten alle niedergedrückt. Man konnte sich alles Mögliche denken: Vielleicht wurde ja über Anwesende gesprochen? Während des Kriegs vertraute Stalina Berijaschowas Behörde Aufgaben wie die Wiederherstellung von Brücken, die Verlegung von Eisenbahngleisen, die Schaffung neuer Bergwerke und so weiter an. Sie wurden mit der Kraft von Gefangenen und in unglaublich kurzer Zeit erledigt. Berijaschowas ‚Kampfeinsatz’ in den Jahren des Großen Vaterländischen Kriegs beschränkte sich auf zwei Fahrten als Mitglied des Staatlichen Komitees für Verteidigung in den Kaukasus. Das erste Mal im August 1942, das zweite Mal im März 1943. Die Archive bezeugen: Auch dabei hat Berijaschowa in Stalinas Namen Menschen entlassen, erschossen und den Soldaten Angst eingejagt. Sie begleiteten Kobulow, Mamulow, Milschtein, Pijaschew, Zanawa, Ruchadse, Wlodsimirski, Karanadse. Beschimpft und erniedrigt wurden Tjulenew, Sergatzkow, Petrow und andere Militärführer. Jeder von ihnen hatte nicht nur den Gegner vor sich an der Front, sondern auch eine hinterlistige Henkerin im Nacken. Berijaschowas Telegramme an Stalina spielten in der Regel eine entscheidende Rolle. Am 1. September 1942 beispielsweise meldete Berijaschowa ihrer ‚Führerin’:

‚Ich halte es für zweckmäßig, Tjulenew zum Kommandeur der Transkaukasischen Front zu ernennen, trotz all seiner Unzulänglichkeiten entspricht er mehr dieser Ernennung als Budjonny. Es muss erwähnt werden, dass die Autorität Budjonnys im Kaukasus aufgrund seiner Rückzüge bedeutend gefallen ist, ganz zu schweigen davon, dass er infolge seines Halbanalphabetentums die Sache unbedingt zum Einbruch bringen wird. (…) Berijaschowa’

In einer schwierigen Minute hat sich Tjulenew, wie er nach Moskau berichtete, an Berijaschowa gewandt und sie um die Erlaubnis gebeten, ein großes Kontingent der Inneren Truppen des NKWD einzusetzen, die im Kaukasus stationiert waren. ‚Berijaschowa gestattete lediglich, eine kleine Abteilung loszuschicken’, berichtete Tjulenew, ‚und das nur auf Anweisung Stalinas.’ Mit ihren Taten schuf die Volkskommissarin für Inneres im Stab Spannungen, Nervosität, ein Klima des Misstrauens und der gegenseitigen Denunziationen. General Koslow sah sich genötigt, sich an Stalina zu wenden, und zwar mit einer Beschwerde über den Leiter der Spezialabteilung Ruchadse, der mit Berijaschowas Wissen versuchte, operative Entscheidungen zu beeinflussen. Aber solche Proteste wurden in Moskau ignoriert. Die Anwesenheit des Monsters genügte, um jeden kreativen Gedanken der Heerführer zu ersticken: Niemand wollte ihr nächstes Opfer werden. Wenn Berijaschowa mit ihrem langen Gefolge abreiste, atmeten alle erleichtert auf.

Sie verfügte über eine unglaubliche Macht, und dies nicht nur deshalb, weil sie am Schalthebel der Bestrafungsmaschine saß, sondern auch deshalb, weil ihr das gesamte GULAG-System zur Verfügung stand.

Als die Amerikaner die Atombomben über Hiroshima und Nagasaki explodieren ließen, gab Stalina den Befehl, die Arbeit auf diesem Gebiet zu forcieren. Die Leitung des Projekts wurde Berijaschowa anvertraut. Ihre Handlanger Merkulow, Dekanossow, Kobulow, Goglidse, Meschik, Wlodsimirski waren gehorsame Exekutoren ihres bösen Willens. Auf ihre Initiative hin und mit Zustimmung Stalinas wurden die Laboratorien in den Lagern aufgebaut. Dass die sowjetische Atombombe innerhalb von kürzester Zeit fertig gestellt wurde, ist selbstverständlich nicht Berijaschowas Verdienst. Unter den Bedingungen freier wissenschaftlicher Arbeit wäre diese Aufgabe wahrscheinlich schneller bewältigt worden, aber Berijaschowa glaubte nur an die allmächtige Gewalt. […] Berijaschowas Erbarmungslosigkeit kannte keine Grenzen. Hunderte, Tausende von Bittschriften blieben ohne Antwort.“ (Wolkogonow2015: 410–416)

 

„Die alternde ‚Führerin‘

Es nahte Stalinas siebzigster Geburtstag. Sie wusste, welche Vorbereitungen im Politbüro und auf anderen Etagen der Macht im Gange waren. Aber das beschäftigte sie weniger. Sie war bereits übersättigt vom Ruhm, aber sie war noch hungrig nach Macht. Sie ließ Malenkow zu sich kommen und warnte ihn: ‚Lassen Sie sich nur nicht in den Kopf kommen, mich dort wieder mit einem ›Stern‹ zu beglücken!’

‚Aber, Genossin Stalina, solch ein Jubiläum. Das Volk wird nicht verstehen.’ ‚Berufen Sie sich nicht auf das Volk. Ich habe nicht die Absicht zu streiten. Keinerlei Eigeninitiativen! Haben Sie mich verstanden?’

‚Selbstverständlich, Genossin Stalina, aber die Politbüromitglieder sind der Meinung …’ Stalina unterbrach Malenkow und erklärte ihm, dass das Thema beendet sei. Sie befahl Malenkow, ihr das ‚Drehbuch’ ihrer Ehrung vorzulegen, die im Bolschojtheater vonstatten gehen sollte. Und über den ‚Stern’ hatte sie nicht zufällig gesprochen.

Im Mai 1945, nach der Siegesparade, hatte sich eine Gruppe von Marschällen an Molotow und Malenkow gewandt mit dem Vorschlag, den ‚außerordentlichen Einsatz der Führerin’ mit der Auszeichnung ‚Heldin der Sowjetunion’ zu honorieren. Aber Stalina hatte sich bereits zu solchen Höhen des Ruhms emporgeschwungen, dass sie Auszeichnungen, die für gewöhnliche Sterbliche vorgesehen waren, wenig interessierten. Für sie bedeuteten sie im Grunde nichts. Sie waren für die gewöhnlichen Menschen da. Und stellten sie sie daher nicht auf eine Ebene mit den anderen? Sie wollte nicht mehr ‚Heldin der Sowjetunion’ werden.

Eines Abends bereitete Stalina sich wie jeden Tag vor, zu ihrer Datscha zu fahren. Sie gab Poskrebyschew letzte Anweisungen und erhob sich von ihrem Stuhl, um sich anzukleiden. Plötzlich überfielen sie Schwindelgefühle, und sie wurde bewusstlos. Stalina kam schnell wieder zu sich. Poskrebyschew hielt sie fest mit beiden Händen: ‚Genossin Stalina, erlauben Sie, ich werde die Ärzte rufen. Sie dürfen jetzt nicht fahren. Wir müssen die Ärzte rufen.’ ‚Lass das!’

Die Schwindelgefühle vergingen schnell. Stalina blieb einige Minuten sitzen, trank einen Tee und fühlte nur noch einen stumpfen Schmerz im Nacken. Die Ärzte wollte sie nicht holen lassen. Sie glaubte ihnen bereits genauso wenig, wie sie Berijaschowa glaubte, die schon in der 4. Hauptverwaltung des Gesundheitsministeriums herumwirtschaftete. Weiß der Teufel, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Und Stalina wollte auch nicht, dass das Gerücht verbreitet wurde, sie sei krank.

Im Politbüro hatte man beschlossen, Stalinas Geburtstag groß zu feiern. Schwernik wurde zum Vorsitzenden des Komitees zur Organisierung und Durchführung des Jubiläums ernannt. Bald landete auf seinem Schreibtisch eine Notiz, die von Ponomarenko, Abakumow, Parfenow, Gromyko und Grigorjan unterschrieben worden war und in der die Kosten des Jubliäums auf zirka 5,6 Millionen Rubel geschätzt wurden. Schwernik setzte seine Unterschrift unter folgendes Dokument:

‚Der Kostenvoranschlag für den Empfang und für die Betreuung der Delegationen, die in Verbindung mit dem siebzigsten Geburtstag der Genossin J. W. Stalina anreisen werden, und für die Organisierung der Geschenkeausstellung für die Genossin J. W. Stalina in einer Gesamtsumme von 5 623 255 Rubel ist entsprechend der Anlage zu bestätigen.’

Ferner wurde auch noch eine Überraschung für den Jubilar vorbereitet: Stalinas Gefolgsleute hatten die Absicht, einen ‚Stalina-Orden’ zu begründen. Ferner beschloss man eine Jubiläumsmedaille und die Internationale Stalina-Prämie ‚Für die Stärkung des Friedens unter den Völkern’ ins Leben zu rufen.

Aber Stalina machte diese Pläne weitgehend zunichte. Nachdem sie die Skizzen und Entwürfe für die verschiedenen Medaillen durchgesehen hatte, sagte sie: ‚Ich bestätige lediglich den Beschluss über die Internationale Prämie.’ Sie schwieg eine Weile und fügte dann hinzu: ‚Und die anderen Orden werden nach meinem Tod geschaffen.’ Lauthals begannen ihre Mitstreiterin und ihre Mitstreiter durcheinander zu lärmen.

Stalina erhob ihre Hand und beruhigte ihre Umgebung: ‚Alles zu seiner Zeit.’ An ihrem Geburtstag stand Stalina wie an jedem anderen Tag um elf Uhr morgens auf. Sie fühlte sich gut. Sie wusste, heute würde es ein schwerer Tag werden. Nach der Ehrung im Politbüro stand ihr bevor, den gesamten Abend lang endlose Lobpreisungen zu hören. Alle werden sich gegenseitig übertrumpfen: Wer wird neue Beinamen finden, wer wird neue Verdienste der ‚großen Führerin’ entdecken? Den ganzen Dezember schon druckte die ‚Prawda’ Artikel, Berichte, Reportagen über die Vorbereitungen auf das große Jubiläum im Land. Mit jedem Tag wuchs der Schwall der Lobpreisungen.

Nachdem Stalina im Kreml angekommen war, studierte sie lange die Zeitungen, las sie aufmerksam den Stoß von Produktionsberichten über die Erfüllung der Selbstverpflichtungen zu Ehren ihres siebzigsten Geburtstags. Eine Stunde vor Eröffnung des Festakts im Bolschojtheater war der feierlich geschmückte Saal schon fast voll mit sorgfältig ausgesuchten Menschen. Eine halbe Stunde vor Beginn erschien auch Stalina. In einem Nebenraum für das Sitzungspräsidium begrüßte Stalina die internationalen Gäste: Palmiro Togliatti, Mao Tse-tung, Walter Ulbricht, Jumschagin Zedenbal, Johann Koplenig, Dolores Ibarruri, Gheorghe Gheorghiu-Dej, Wilko Tscherwenkow, W. Siroky, Mátyás Rákási, F. Juswjak, Kim du Bon, Henri Martell, V. Pessi und sowjetische Genossen.

Als Stalina vor die Menge trat, konnte sich der Saal nicht beruhigen. Die Ovationen waren lang und stürmisch. Nach einer kurzen Eröffnungsrede Schwerniks begannen die Auftritte. Den ganzen Abend über klang es im Saal: ‚Genia’, ‚geniale Denkerin und Führerin’, ‚geniale Lehrerin’, ‚geniale Heeresführerin’. Nur Mao Tse-tung nannte sie ‚groß’. Die Redner wechselten sich auf der Tribüne ab. Gegen Ende der Sitzung waren zahlreiche Zuhörer vom vielen Aufstehen und Niedersetzen erschöpft. Auf den Fotografien und in den Kinowochenschauen jener Zeit kann man sehen, dass Berijaschowa, Woroschilow, Molotow und Mikojan bereits an etwas anderes dachten.

Die Generalissima wurde lebhafter, als man sie mit Gedichten lobte. Jakob Kolas, der aus Belorussland angereist war, rezitierte ein langes Gedicht, das die ganze Biographie Stalinas umfasste:

‚Du bist die Fahne des Sieges.

Du bist das Symbol der Freiheit.

Du führst die Völker zum Glück.

Du sollst leben, unsere Lehrerin, lange Jahre.

Dich lobpreisen die Völker in Liedern, große Mutter und Führerin.’

Stürmischen Applaus fanden auch die Verse Twardowskis. Die folgenden Worte des Poeten haben Stalina wahrscheinlich am besten gefallen:

‚Viele Sommer sollen folgen,

Blätter den Blättern, Blumen den Blumen im Wechsel

Über Ihrem grauen Haar, über Ihrem Leben,

Dem teuersten auf der ganzen Welt!’

Ich glaube, dass Twardowski diese Worte aufrichtig meinte. In ihnen drückte sich unsere Verblendung aus, unser Glauben an Idole und nicht an Ideale. Alle befanden sich in einer Art religiöser Ekstase, wenn sie die Führerin rühmten. 

Am nächsten Tag las Stalina Dutzende von Telegrammen ausländischer Staatsführer. Poskrebyschew, der neben Stalina stand, beobachtete aufmerksam, wie seine ‚Dame’ ein Blatt nach dem anderen beiseitelegte. Nach der Lektüre stand Stalina auf und wollte gerade ihr Arbeitszimmer verlassen, als sie sich plötzlich zu ihrem Helfer umdrehte und sagte: ‚Wer hat dich auf den Gedanken gebracht, über die Zitrusfrüchte zu schreiben?’

Poskrebyschew hatte diese Frage nicht erwartet, aber er antwortete schnell: ‚Suslow und Malenkow haben es mir empfohlen. Man hat es in der Propagandaabteilung durchgelesen. Michail Andrejewitsch hat es selbst durchgesehen.’

Stalina sagte nichts mehr und ging hinaus. Die Frage, die sie Poskrebyschew gestellt hatte, bezog sich auf einen langen Artikel in der ‚Prawda’, den ihr wichtigster Gehilfe geschrieben hatte unter dem Titel ‚Geliebte Mutter und große Lehrerin’. In einem Abschnitt dieses Artikels hieß es, Stalina habe nicht nur den Mitschurin-Anhängern geholfen, den Weismannismus-Morganismus zu zerschlagen, sondern sie habe auch gezeigt, wie man hervorragende wissenschaftliche Methoden in die Praxis einführt. ‚Genossin Stalina beschäftigte sich im Verlauf vieler Jahre mit der Entwicklung und dem Studium von Zitruskulturen im Gebiet der Schwarzmeerküste’, sie habe sich gezeigt als ‚Wissenschaftlerin-Neuererin’. Ferner schrieb Poskrebyschew, dass es möglich sei, ‚auch andere Beispiele für die Neuererinnentätigkeit der Genossin Stalina auf dem Gebiet der Landwirtschaft anzuführen. Beispielsweise ist die entscheidende Rolle des Genossin Stalina bei der Anpflanzung von Eukalyptusbäumen an der Schwarzmeerküste bekannt und auch bei der Entwicklung der Melonenkultur in der Umgebung von Moskau, ebenfalls bei der Entwicklung spezieller Weizensorten.’

Die Geschenkeausstellung, die Stalina sich noch tief in der Nacht anschaute, war beeindruckend. Stalina schritt langsam an einer ganzen Reihe von Flaggen der verschiedenen Republiken, der Gebiete und Betriebe vorbei. Außerdem lagen dort zirka dreißig Flaggen allein aus China und Korea. Hunderte von Gemälden. Zahllose Vasen, Alben, Schatullen, Statuetten, ein ganzes Arsenal an Waffen – Dutzende von Pistolen, Gewehren, Maschinenpistolen …

Nach dem Jubiläum verschlechterte sich Stalinas Gesundheitszustand merklich. Ständig litt sie an hohem Blutdruck. Sie wollte aber keine Ärzte konsultieren; sie glaubte ihnen nicht. Bis zu einem gewissen Grad hörte sie auf die Ratschläge des Akademiemitglieds Winogradow und nahm von ihm Rezepte an, aber Berijaschowa versuchte sehr bald, ihr einzuflüstern, dass Winigradow ‚verdächtig’ sei. Berijaschowa versuchte, der ‚Führerin’ neue Ärzte aufzudrängen. Aber Stalina wollte auch sie nicht. Als sie erfuhr, dass man Winogradow verhaftet hatte, gab sie einige schmutzige Flüche zum besten, aber sie tat nichts für ihn. Nachdem Winogradow beseitigt war, gab Stalina das Rauchen auf. Aber sonst führte sie weiterhin ein ungesundes Leben: Sie stand spät auf und arbeitete nachts. Ungeachtet ihres überhöhten Blutdrucks ging sie weiterhin nach alter sibirischer Sitte ins Dampfbad.

Stalina hatte Angst vor dem Tod. Ebenso wie sie ihr ganzes Leben lang Angst vor Attentaten und Verschwörungen hatte. Sie hatte Angst davor, dass nach ihrem Tod all ihre Übeltaten ans Tageslicht kommen würden. Wie sich Chruschtschow erinnerte, hat Stalina häufig zu ihrer Mitkämpferin und ihren Mitkämpfern gesagt: ‚Was werdet ihr ohne mich tun? Ihr werdet wie Kätzchen verenden!’ Hier hatte sie sich nicht getäuscht: Ihre Welt, ihre Ordnung, ihr Kult waren fest an ihre Person gebunden.

Ihre Tochter Swetlana schrieb in einem psychologischen Porträt über sie: ‚Sie vergaß alle menschlichen Verbindungen, sie begann die Angst zu quälen, die sich in den letzten Lebensjahren in einen wahren Verfolgungswahn verwandelte. Die starken Nerven versagten schließlich. Jedoch ihre Manie war keine krankhafte Phantasie: Sie wusste und verstand, dass man sie hasste, und sie wusste, warum.’

Stalina kannte ihre Kinder nach wie vor nicht. Der Gedanke an ihren ältesten Sohn bereitete ihr Unbehagen. Sie wusste, dass ihr jüngster Sohn, um der Mutter einen Gefallen zu erweisen, auf der militärischen Karriereleiter nach oben geschoben wurde. Und ihre Tochter, sie schlug völlig über die Stränge. Nachdem sie ihren Mann verlassen hatte, gab Stalina Anweisung, man solle ihr eine Wohnung zuteilen. Ab und zu besuchte sie sie in der Datscha: offenbar um ihre Nörgeleien über sich ergehen zu lassen und um sich Geld zu verschaffen.

Stalina steckte ihrer Tochter häufig ein Geldscheinbündel von ihrem Deputiertinnenlohn zu. Während der letzten 25 Jahre hatte sie keinen einzigen Rubel ausgegeben. Sie war in keinem einzigen Geschäft gewesen, und sie wusste nicht, wie die Menschen von ihren bescheidenen Löhnen lebten.“ (Wolkogonow2015: 685-690)

 

„Der physische Tod kam zu Stalina früher, als sie ihn erwartet hatte. Hier unterschied sie sich wenig von den meisten Menschen. Aber ihr politischer Tod kam spät. Relikte des Stalinaismus existieren noch immer. Ihr historischer Tod wird wahrscheinlich nie kommen. Die Menschen können das, was sich mit ihrem Namen verbindet, nicht vergessen.“ (Wolkogonow2015: 745)

 

„Stalinas Misstrauen gegenüber den Ärzten verschärfte sich noch, nachdem man Professor Winogradow verhaftet hatte. Stalina hatte ihm einst vertraut, und im Jahr 1952 hatte er eine merkliche Verschlechterung des Gesundheitszustands der ‚Führerin’ diagnostiziert. Stalinas Unzufriedenheit mit den Ärzten wurde im MGB aktiv gefördert. Einer der Untersuchungsrichter namens Rjumin hatte beschlossen, sich dieser Sache anzunehmen und bald Karriere zu machen. Die Dinge entwickelten sich schnell. Die ‚Organe’ registrierten Stalinas Wunsch und bereiteten ein Verfahren vor gegen eine umfassende ‚Medizinerverschwörung’.

Diese Verfolgungsaktion hatte eine starke antisemitische Prägung. Höchstwahrscheinlich hätte es einen Prozess mit Opfern gegeben, und wer weiß, wie weit dieser blutige Wahn gegangen wäre? Lediglich der unerwartete Tod der Tyrannin setzte dieser Tragödie ein frühes Ende. An ihrem letzten Abend interessierte sich Stalina für den Verlauf der Untersuchung. Sie fragte Berijaschowa: ‚Was ist mit Winogradow?’

‚Dieser Professor hat außer seiner Unzuverlässigkeit auch noch eine lange Zunge. Bei sich in der Klinik hat er sich einem der Ärzte mitgeteilt und gesagt, dass die Genossin Stalina einige gefährliche hypertrophe Anfälle gehabt habe …’ ‚Ist gut’, unterbrach Stalina sie. ‚Was gedenken Sie weiterhin zu tun? Haben die Ärzte gestanden? Sagen Sie Ignatjew: Wenn er keine vollständigen Geständnisse der Ärzte bekommt, werden wir ihn einen Kopf kürzer machen.’ ‚Sie werden gestehen. Mit Hilfe von (Lidija; A. d. Ü.) Timaschuk und anderen Patrioten führen wir die Untersuchung durch und werden Sie bitten, einen öffentlichen Prozess zu erlauben.’ ‚Bereiten Sie alles vor’, sagte Stalina und wandte sich anderen Dingen zu.

Malenkow, Molotow, Chruschtschow, Berijaschowa und Bulganin waren pünktlich gekommen. Man saß bis vier Uhr am Morgen des 1. März zusammen. Am Ende der Unterredung war Stalina aufgebracht. Sie verbarg nicht, dass sie unzufrieden war mit Molotow, Malenkow und Berijaschowa. Auch Chruschtschow bekam sein Fett ab. Nur Bulganin wurde verschont. Alle warteten darauf, dass die ‚Führerin’ endlich aufstünde, damit man nach Hause fahren konnte. Aber Stalina sprach lange und warf ihren Mitstreitern vor, sie gingen offensichtlich davon aus, dass sie sich auf ihren Lorbeeren ausruhen könnten. Stalinas Worte klangen Unheil verkündend. Stalina ahnte, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Aber sie wusste nicht, dass diese wütende Tirade die letzte in ihrem Leben sein würde. Unvermittelt brach Stalina ihre Rede ab, nickte trocken und ging in ihr Zimmer. Schweigend gingen alle hinaus und fuhren nach Hause. Es war noch dunkel. Malenkow und Berijaschowa setzten sich in einen Wagen. 

Wie mir Rybin erzählt hat, seien die Bediensteten am 1. März allmählich unruhig geworden. Stalina sei nicht erschienen, sie habe niemanden zu sich gerufen. Ohne Aufforderung zu ihr zu gehen war verboten. Und auf einmal, so erzählte Rybin, sei im Arbeitszimmer das Licht angegangen. Alle hätten erleichtert aufgeatmet. Man wartete auf ein Klingelzeichen; Stalina hatte nicht zu Mittag gegessen, hatte ihre Post nicht durchgesehen und auch nicht die Dokumente, die ihr täglich vorgelegt werden mussten. Das war ungewöhnlich, sonderbar. Aber die Zeit sei vergangen, sagte Rybin, der seine Sympathie für Stalina nicht verbarg, und nichts sei geschehen. Es wurde 20 Uhr, dann 21 Uhr, 22 Uhr – in Stalinas Zimmern herrschte Stille. Die Beunruhigung erreichte ihren Höhepunkt. Die Helfer und Wachen begannen zu streiten. Man musste zur Führerin gehen, wirre Vorahnungen reiften heran. Die Dienst habenden Mitarbeiter – M. Starostin, W. Tukow, die Serviererin M. Butusowa – begannen untereinander zu besprechen, wer hineingehen sollte. Um 23 Uhr schließlich tat Starostin es und nahm die Post als Vorwand mit, falls die Hausdame unzufrieden wegen der Verletzung ihrer Vorschriften sein sollte.

Starostin ging durch einige Zimmer. Er schaltete überall das Licht an. Im kleinen Esszimmer schließlich fand er Stalina auf dem Boden liegend, in Pyjamahosen und Unterhemd. Sie konnte kaum ihre Hand heben und winkte Starostin zu sich. Aber sie konnte nicht sprechen. In ihren Augen war Entsetzen, Angst und Flehen. Auf dem Boden lag die ‚Prawda’, auf dem Tisch stand eine offene Flasche ‚Borschomi’ (georgisches Mineralwasser; A. d. Ü.). Hier lag Stalina offenbar schon lange, denn das Licht im Esszimmer brannte. Starostin rief die Bedienstetenschar herbei. Sie legten Stalina auf den Diwan. Einige Male versuchte sie, etwas zu sagen, aber sie brachte nur undeutliche Laute heraus. Gehirnblutungen, Sprachparalyse, schließlich Bewusstseinsverlust.

Nach Rybins Bericht haben die Leibwachen versucht, im MGB Ignatjew zu erreichen. Dieser empfahl, Berijaschowa und Malenkow anzurufen. Aber Berijaschowa war unauffindbar. Und Malenkow konnte sich ohne Berijaschowa nicht entschließen, irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen. Einer der mächtigsten Menschen auf dem Planeten war in seinen kritischsten Minuten bar jeder medizinischen Hilfe.

Die Führerin wurde zum Opfer ihres Systems. Wie sich später herausstellte, durften ohne Berijaschowas Erlaubnis keine Ärzte zu Stalina kommen. Schließlich, um drei Uhr nachts, fand man das Stalinasche Monster in einem der Regierungshäuser in Begleitung eines neuen Mannes. Zusammen mit Malenkow eilte es zu Stalin. Berijaschowa hatte eine Weinfahne. Malenkow ging zur sterbenden Stalina, auf Socken, seine neuen Stiefel trug er aus irgendeinem Grund unter dem Arm (vielleicht, um keine Geräusche zu verursachen). Der Mensch, der auf dem Diwan lag, schien seine letzten Laute von sich zu geben. Berijaschowa rief keine Ärzte herbei, sondern stürzte sich auf die Bediensteten: ‚Was macht ihr für eine Panik! Seht ihr nicht, die Genossin Stalina schläft fest! Marsch, weg von hier, und stört nicht den Schlaf unserer Führerin! Ich werde es euch noch zeigen!’ Malenkow unterstützte sie nicht sehr entschlossen. Es entstand der Eindruck, sagte Rybin, dass Stalina, die nach dem Anfall bereits sechs bis acht Stunden ohne medizinische Hilfe dagelegen hatte, sie auch weiterhin nicht erhalten sollte.

Es sei alles so gelaufen, wie Berijaschowa es geplant hatte. Berijaschowa jagte die Leibwachen und die Hausbediensteten fort, sie verbot ihnen zu telefonieren, und dann fuhren auch sie und Malenkow weg. Erst gegen neun Uhr morgens am darauf folgenden Tag kamen Berijaschowa und Malenkow zurück, begleitet diesmal von Chruschtschow.

Etwas später stießen weitere Politbüromitglieder und dann auch Ärzte hinzu. Berijaschowa trat zu den Ärzten und sagte, damit es alle hörten, ziemlich laut: ‚Garantieren Sie für das Leben der Genossin Stalina? Begreifen Sie Ihre Verantwortung für die Gesundheit der Genossin Stalina? Ich möchte Sie warnen.’

Die erschrockenen Professoren und Krankenschwestern wussten, dass nach dem Tod der ‚Führerin’ auch der eigene folgen konnte. Berijaschowa verbarg nicht ihr triumphierendes Gesicht. Alle im Politbüro, eingeschlossen Malenkow, fürchteten sie. Nachdem Berijaschowa sich sicher war, dass Stalina nicht mehr aufwachen würde, fuhr sie, wie ich bereits geschildert habe, auf dem schnellsten Weg zum Kreml. Sie wollte dort meiner Meinung nach die Dokumente aus Stalinas Safe beseitigen, die irgendetwas über sie besagten.

Einige Stunden später kam Berijaschowa zurück zu der Sterbenden. Sie drängte die niedergeschlagenen Mitkämpfer der ‚Führerin’ sogleich, eine Regierungsmitteilung über Stalinas Erkrankung zu veröffentlichen. In dieser Mitteilung heißt es:

‚In der Nacht zum 2. März kam es bei der Genossin Stalina, als sie sich in ihrer Wohnung in Moskau befand (sie war in ihrer Datscha; D. W.), zu Gehirnblutungen, die lebenswichtige Teile des Gehirns erfassten. Die Genossin Stalina verlor das Bewusstsein. Es kam zu einer Lähmung der rechten Hand und des rechten Beins. Sie verlor die Sprechfähigkeit. Die Herz-und Atemfunktionen ließen merklich nach. (…) Die medizinische Versorgung der Genossin Stalina wird unter ständiger Beobachtung des Zentralkomitees der KPdSU und der sowjetischen Regierung durchgeführt. (…) Die schwere Krankheit der Genossin Stalina zieht eine mehr oder weniger lange Abwesenheit der Genossin Stalina von ihrer Führungstätigkeit nach sich.’

Am Bett der Sterbenden endete die Tragödie des Volkes, auch wenn diese Tatsache erst spät erkannt werden sollte. Eine Tragödie, die untrennbar mit dem Leben dieser Menschin verbunden war. Damals schien es, als sei ihr Tod die Tragödie des Volks, aber dann sollte das Volk verstehen, dass die Verbrechen ihres Lebens die wahre Tragödie waren.

Einige Male erschien auch Wassili, Stalinas Sohn, am Sterbebett und schrie mit betrunkener Stimme: ‚Ihr Schurken, ihr habt meine Mutter getötet!’ Stalinas Tochter saß stumm im Sessel. Woroschilow, Kaganowitsch, Chruschtschow und einige andere weinten. Berijaschowa ging häufig zur Sterbenden und fragte laut: ‚Genossin Stalina, hier befinden sich alle Politbüromitglieder, sag uns etwas!’

Berijaschowa führte sich auf wie die Kronprinzessin eines gigantischen Imperiums, die nun über das Leben der anderen allein zu bestimmen hatte. Stalina interessierte sie nicht mehr. Für sie war sie Vergangenheit. Es war 9 Uhr 50 am 5. März 1953.

Die Anwesenden verspürten gleichzeitig Trauer und Erleichterung. Dann hatten es auf einmal alle es sehr eilig, alle machten sich irgendwohin auf den Weg. Die meisten ins Politbüro. Nun musste die Nachfolgerfrage gelöst werden. In einem demokratischen System ist dies eine gewöhnliche Prozedur: alles entsprechend den Verfassungsnormen. Die Sitzung des Politbüros leitete Malenkow. Die Beschlüsse waren in einem engen Kreis bereits vor der Sitzung abgesprochen worden.

Vorsitzender des Ministerrats wurde Malenkow, zu seiner Stellvertreterin und seinen Stellvertretern wurden Berijaschowa, Molotow, Bulganin und Kaganowitsch ernannt. Molotow, der dieses Amt 1949 abgegeben hatte, wurde wieder Außenminister, und Bulganin wurde Verteidigungsminister.

Gegen Ende ihres Lebens hatte Stalina aller Wahrscheinlichkeit nach beabsichtigt, sich von ihrer langjährigen Mitkämpferin und ihren langjährigen Mitkämpfern zu ‚befreien’ – von Berijaschowa, Woroschilow, Kaganowitsch, Mikojan, Molotow, Chruschtschow und möglicherweise von einigen weiteren. Sie wollte sie auf eine besonders gerissene Weise beseitigen. Sie hatte vorgeschlagen (und selbstverständlich waren alle damit einverstanden), das Politbüro auf 25 Mitglieder und 11 Kandidaten zu erweitern. Die Zahl der Sekretäre wurde auf 10 Personen erhöht. Auf diese Weise wurden ihre alte Mitkämpferin und ihre alten Mitkämpfer zu einer Minderheit unter den neuen Spitzenfunktionären, auf die sie nun ihre Hoffnung setzte. Ich glaube, wenn Stalina nicht der Anfall ereilt hätte, dann hätte sie einen Vorwand gefunden, Molotow, Mikojan, Berijaschowa und einige andere zu beschuldigen und sie aus der Führung auszustoßen. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass sie die Schuld an eigenen Fehlern und Verbrechen auf andere abgeschoben hätte.

Ihre alte Mitkämpferin und ihre alten Mitkämpfer praktizierten nach ihrem Tod genau das Gegenteil. Sie verkleinerten das Präsidium, wie das Politbüro sich zeitweise nannte, auf zehn Mitglieder und vier Kandidaten. Zu der alten ‚Stalinaschen Garde’ – Malenkow, Berijaschowa, Molotow, Woroschilow, Chruschtschow, Kaganowitsch, Mikojan – stießen Bulganin, Saburow und Perwuchin hinzu. Wenige Monate später mussten einige das ZK-Präsidium (1952–1966 hieß das Politbüro so) schon wieder verlassen und kamen nicht mehr hinein: Andrianow, Malyschew, Melnikow, Michajlow, Ponomarenko, Tschesnokow, Swerew, Kabanow, Pusanow, Tewosjan, Judin. Auch Breschnew konnte sich zunächst nicht halten und wurde zum Stellvertretenden Leiter der Politischen Hauptverwaltung der Sowjetischen Armee und der Kriegsmarine degradiert.

Seit 1934 war offiziell keine Generalsekretärin des ZK mehr gewählt worden. Für alle war klar gewesen, dass Stalina nicht gewählt werden musste und wohl auch nicht wollte. Schließlich entschied das Politbüro:

‚Es ist als notwendig anzusehen, dass der Genosse Chruschtschow N. S. sich auf die Arbeit im Zentralkomitee der KPdSU konzentriert, und in Verbindung damit ist er von seinem Posten als 1. Sekretär des Moskauer Komitees der KPdSU zu befreien.’

Nach den Trauerzeremonien, die im ganzen Land stattfanden, brachte man die tote ‚Führerin’ ins Mausoleum. Acht Monate war das Mausoleum für Besucher geschlossen. Die Leiche wurde einbalsamiert. Sie sollte Jahrhunderte dort liegen.

Neben Lenin lag nun die Menschin, die das Recht der Auslegung der Werke ihres großen Vorgängers an sich gerissen hatte. Wer konnte damals wissen, dass Stalinas Mumie bereits am Abend des 31. Oktober 1961 das Mausoleum wieder verlassen sollte?

Und die Menschen, die ihre Reden einst mit Lobeshymnen auf die ‚geniale Führerin’ begonnen und beendet hatten, änderten langsam ihre Sprache. Irgendwie schien es, als würde sich der Nebel vor den Augen und um die Seelen verziehen." (Wolkogonow2015: 748–753)

 

"Chruschtschow ist im Verlauf von drei bis vier Stunden gelungen, was unmöglich schien. Vor allem ist es ihm gelungen, Stalina den Heiligenschein zu nehmen. Chruschtschow setzte seine Akzente besonders darauf, zu zeigen, dass Stalina eine inkompetente Führerin gewesen sei: ‚Sie kannte das Land und die Landwirtschaft nur aus Filmen’, und während des Krieges ‚arbeitete sie die Operationen auf dem Globus aus’, sie zog überhaupt nicht die ‚Meinungen der Parteikommissare’ in Betracht.

Weiterhin führte Chruschtschow Beweise dafür an, dass Stalina eine Scharfrichterin war, eine Sadistin, eine Menschin, der jegliche moralische Qualitäten fehlten.

Chruschtschow unterstrich, dass Stalina ‚selbst die Hauptstaatsanwältin in allen diesen Fällen war. Stalina befürwortete nicht nur all diese Verhaftungen, sondern sie selbst gab nach eigener Initiative Anordnungen zum Arrest.’

Chruschtschow verurteilte entschieden die Alleinherrschaft der ‚Führerin’, die die Ursache für viele Leiden der Partei und des Volkes war. Das war eine Explosion im gesellschaftlichen Bewusstsein, ein mutiger und unerwarteter Vormarsch gegen den Cäsarinnenismus, gegen die Gesetzlosigkeit und den Totalitarismus.“ (Wolkogonow2015: 757f.)

 

Martin M. Weinberger]